„Die größte Katastrophe ist das Vergessen.“ Unter diesem Aufruf stand der Vortrag zur Pogromnacht 1938 in Großauheim von Dr. Manfred Greb. Der Heimat- und Geschichtsverein hatte zu diesem Vortrag geladen und eine sehr große Anzahl von Besucher erfuhr, mit sehr viel persönlichem Engagement und anhand vieler Dokumente und Bilder, von den Ereignissen des 10.11.1938 im Hause der jüdischen Familien Hirschmann und Baum in Großauheim. Beide Familien wohnten in der heutigen Hauptstraße; damals Adolf-Hitler-Straße. Das Haushalts- und Eisenwarengeschäft der Familie Hirschmann wurde durch SA-Männer, die zum zweiten Mal um Mitternacht kamen, völlig zerstört („ein Schaden von ca. 3.000 – 4.000 RM“ so die damalige Ortspolizeibehörde) und in den Wohnungen der beiden Familien wurde ebenfalls durch Großauheimer SA-Leuten, die gesamte Wohnungseinrichtung innerhalb von 15 Minuten verwüstet.
Heinz Hirschmann, der 18 jährige Sohn der Familie und Heinrich Baum (57 Jahre) wurden verhaftet und am gleichen Tag in das Konzentrationslager Buchenwald, 4 – 5 km von Weimar entfernt, deportiert. Im Dezember 1938 konnte Heinz Hirschmann „wegen Auswanderung“ und Heinrich Baum „wegen erwiesener Frontkämpfereigenschaft“, das Konzentrationslager verlassen; so belegt ein Dokument der „Geheime Staatspolizei – Staatspolizeistelle Kassel“. Unter schwierigsten Bedingungen konnten die Hirschmanns für ihren Sohn ein Ausreisevisum in die USA besorgen. „Trennung ist unser Los, Wiedersehen unsere Hoffnung“, so trennte sich die Familie Hirschmann am 03. Mai 1939 von ihrem Sohn.
Im Juli 1939 musste die Familie Hirschmann ihr Haus verlassen und wurde nach Frankfurt, Ostendstraße 30, 1. Stock, umgesiedelt. Mit vielen anderen jüdischen Familien wurden sie am 11.11.1941 von Frankfurt nach Minsk deportiert und kamen dort zu Tode. Das Schicksal der Familie Baum nahm nach der Entlassung von Heinrich Baum eine andere Wendung. Sie konnten 1939 mit einem Visum nach England auswandern.
Zu den von 1937 gezählten 9 jüdischen Mitbürgern in Großauheim, gehörte auch Gertrud Becker, wohnhaft in der Wolfgangstraße. In der Pogromnacht passierte ihr nichts, da sie mit einem nicht jüdischen Mann verheiratet war. Nachdem sich ihr Mann im Kriege von ihr durch Fernscheidung trennte, war sie nicht mehr geschützt und wurde am 30.Mai 1942 mit 82 anderen jüdischen Männern, Frauen und Kindern, vom Hanauer Hauptbahnhof in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet. Für diese jüdischen Menschen, denen man offiziell die Umsiedlung in den Osten versprach, ist am Hauptbahnhof Hanau eine würdige Gedenktafel angebracht.
Der Start für den 18 jährigen Heinz Hirschmann in Amerika war sehr, sehr schwer. Hier nannte er sich jetzt Henry. 1942 meldete er sich zur Armee und war 1944 bei der Invasion der Alliierten in der Normandie dabei. Nach dem Krieg kam Henry Hirschmann im Oktober/November 1945 nach Großauheim, auf der Suche nach seinen Angehörigen, zurück. Was aus seinen Eltern wurde, konnte er nur erahnen, da er nach der Befreiung des KZ-Dachaus die dortigen Greueltaten sehen konnte. Großauheimer Mitbürger lernten Henry Hirschmann als menschenfreundliche, hilfsbereite und versöhnliche Person kennen. Im Juni 1945 ermöglichte er die sofortige Entlassung des Großauheimer Karl Hein aus dem Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Salzburg. Für den Lokomotivführer Polykarp Göldner, seinem ehemaligen Nachbar, der im März 1945 bei Meerholz von Tieffliegern erschossen und dort schnell begraben wurde, organisierte er im Oktober 1945 seine Exhumierung und die Überführung in seinen Heimatort. Dort wurde er am 1.11., am Fest Allerheiligen, von Pfarrer Anton Dunkel christlich bestattet. Wer bedenkt, dass für Deutsche in den Monaten nach der Stunde Null fast nichts möglich war, kann diese sehr beeindruckende großherzige Tat nur bewundern. Alle Hochachtung Mr. Henry Hirschmann.
Im Jahre 1992 folgte Henry Hirschmann zusammen mit seinem Sohn Paul und anderen ehemaligen jüdischen Einwohner, der Einladung der Gemeinde Großkrotzenburg zur Einweihung der ehemaligen Synagoge in eine Gedenk- und Begegnungsstätte. In deren Innenraum sind auf einer Gedenktafel namentlich alle ermordeten jüdischen Mitbürger aus Großkrotzenburg und Großauheim aufgeführt.
Hieraus entwickelte sich durch mehrere folgende Besuche in seine damalige Heimat, auf der Suche nach seinen Wurzeln „to search our roots“, eine freundschaftliche und herzliche Verbindung, zwischen dem inzwischen 94 jährigen Henry Hirschmann und vielen Großkrotzenburger und Großauheimer Mitbürger. Pfarrer Daume kommen dabei besondere Verdienste zu.
Dr Manfred Greb schickte an Henry Hirschmann eine kurze Zusammenfassung seines Vortrages und die Kopien von zwei wichtigen Dokumenten, die ihm bisher nicht bekannt sein konnten. Diese belegen wann er „wegen Auswanderung“ aus dem KZ-Buchenwald entlassen wurde.