„Immer wenn die Holzmächer zu uns in die Wirtschaft kame, da war was los!“, schmunzelte mein Großvater Karl Kronenberger, Gastwirt am Neuwirtshaus, als er von vergangenen Zeiten sprach.  „Awwer die Holzegänger, sinn ach ab un zu bei uns oigekehrt, ach wennse kaum was verzehrt hamm,“ ergänzte Oma Frieda. Als kleiner Bub konnte ich mir weder unter den „Holzmächern“ noch unter den „Holzegängern“ etwas Konkretes vorstellen. Erst als ich mich Jahrzehnte später für unser Großauheimer Heimatbuch näher interessierte, konnte ich dort auf Seite 184 folgendes entdecken: „Die Holzegänger waren früher aus dem dörflichen Leben nicht wegzudenken. An den Holzlesetagen zogen sie allein oder in Grüppchen in den Wald, um sich Brennholz heimzuholen. Holzegehen und Tannenschäf lesen gehörten zum Privileg der Frauen, der Kinder oder der bejahrten Männer, die keiner Berufsarbeit mehr nachgingen. Wer einen Schiebkarren für diesen Tag sein eigen nannte, hatte es weit gebracht. Denn in der Regel wurde eine Holzlast gebunden und diese von Frauen auf dem Kopf, und von Männern und Buben auf der Schulter heimgeschleppt.“ Diese Zeilen verdeutlichen, in welch ärmlichen Verhältnissen die meisten Großauheimer damals lebten.

Auch die eingangs zitierten „Holzmächer“ waren nichts anderes als einfache Bauersleute, die sich während der Wintermonate ihren kärglichen Lebensunterhalt als Holzfäller aufbesserten. Die Arbeitsbedingen dieser Männer waren äußerst hart. Es gab für sie weder Arbeitsschutzgesetze noch eine ausreichende Unfallschutzversicherung. Sollte einer von ihnen während der Arbeit verunglücken, konnte dies die Existenz einer ganzen Familie gefährden. Zwar hatte Großauheim  als  einziger Ort des ehemaligen kurmainzischen Amtes Steinheim bis 1816 ein Förstergericht. Doch dieses Gericht kümmerte sich keinesfalls um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Holzfäller, sondern um die Abstrafung von Waldfrevel. Großauheim hatte durch seine rechtsmainische Lage bedingt, schon sehr früh einen eigenen großen Wald, der sich bis zur Bayerischen Landesgrenze hinzog. Vergehen in Wald- und Feldmark galten nach überlieferter Rechtsauffassung nicht als Diebstahl, weil der Dorfgenosse sich ja nicht selbst bestehlen konnte. Die Straftat wurde lediglich als Frevel angesehen und daher vom Förstergericht nur gerügt. Die Protokolle hierzu sind oft von lakonischer Kürze. Mit Schmunzeln lesen wir heute die durch ihre Einfachheit so ansprechenden Einträge, wie z.B. „ …eine Frau 5 Schlaich (Schläuche, das sind Krautstrünke) im Hoppengarten unerlaubt ausgestochen“ habe.

Beispielhaft für das zumeist von großer wirtschaftlicher Not geprägte Dasein ist die kurze Lebensgeschichte des Großauheimer Bauersmann Gotthard Börner. Er arbeitete Jahr für Jahr während der Wintermonate als Holzfäller. So war es auch im Winter 1863/64. Börner gehörte zu einer Kolonne, die in jenem Winter den Waldbezirk zwischen Birkenhainer Straße und Staatsstraße (heute Bundesstraße 8)  - die sogenannten Zwergtannen  -  durchforstete. Die Bezeichnung Zwergtannen lässt auf die Bodenbeschaffenheit des Waldortes schließen, die an manchen Stellen kein rechtes Wachstum der Bäume aufkommen lässt. Am Morgen des 12. Januar legten die „Holzmächer“ oben beim Erlenbruch etliche Kiefern um. Dabei wurde Börner von herabsausenden Ästen erfasst und zu Boden geschmettert. Schwer verwundet zogen ihn die anderen Holzfäller aus dem Astwerk hervor. Ein vom Neuwirtshaus schnell herbei geholtes Fuhrwerk brachte ihn nach Hause. Doch unterwegs am Kapellchen  – dem heutigen Rochusplatz –  verstarb er.

 

Freunde und Bekannte wollten ihrem so tragisch ums Leben gekommenen Mitbürger an der Unglücksstätte einen Gedenkstein setzen. Hierfür schien ein am Main herrenlos liegendes Sandsteinkreuz wie geschaffen. Johannes Klug, ein Steinmetzarbeiter, hieb in den Stein die heute noch recht gut lesbare Inschrift ein: GOTHART BÖRNER GEB. 4. SEBT. 1818 VERUNGLÜCKTE HIR AM 12. JANR 1864. Dann brachten die Männer den Stein hinaus in den Wald und gaben ihm seinen Platz, den er hoffentlich für immer behalten wird.

Bis dahin hatte dieses Kreuz schon eine beachtliche Vergangenheit hinter sich. Ältere Auheimer erzählten, dass vor vielen Jahren ein Flößer in der Nähe des Hergerswiesengrabens ums Leben gekommen sei, als er beim Durchqueren des hochgeschwollenen Mains den Weg verfehlte. Ihm zum Gedächtnis wäre damals dieses schwere, aus einem Stück gehauene Kreuz gesetzt worden. Jahrzehnte waren inzwischen vergangen. Niemand konnte sich mehr  an dieses Ereignis erinnern. Das Andenken an den Toten verblasste. Hochwasser oder Eisgang hatten den Stein umgerissen und das Erdreich weggespült, bis er lose umher lag. Und erst durch den tragischen Unfall von Gotthard Börner erhielt dieses Kreuz seine eigentliche Bestimmung wieder. Der ehrwürdige Stein steht bis heute in unserem ehemaligen Gemeindewald im Jagen 9  unweit des Holzegängerwegs, einem alten Waldpfad. Neben einem Ort stiller Besinnlichkeit für den Betrachter ist er ein einzigartiges Kulturdenkmal, welches Zeugnis über die Lebensbedingungen der Großauheimer im 19. Jahrhundert  ablegt.

 

 

 

Quellennachweis:

Heimatbuch Großauheim, zweite, erweiterte Auflage von 1969,

herausgegeben  von Prof. Dr. Mathilde Hain, hier bes. S. 184 und S. 194 bis 196

 

Hier noch eine kleine Hilfe wenn sie das Kreuz besuchen wollen:

Fahren sie zum Parkplatz an der B8 zwischen Kahl und Großauheim. Von dort zweigt die Forststraße Erleneckschneise ab. Direkt über dieser Forststraße verläuft die Trasse der Hochspannungsleitung die vom Kraftwerk Staudinger kommt. Vom Parkplatz an der B8 spazieren sie an zwei Mastenpaaren vorbei und noch vor dem 3. Mastenpaar sollte links an einer Kiefer ein Wegweiser zum Börnerkreuz weisen. Dem Wegweiser folgend gehen sie noch vielleicht 60m den Holzegängerweg entlang und schon sind sie beim Börnerkreuz, das etwa 15m seitlich des Weges rechts im Wald steht. Für GPS-Freunde: (50.103959,8.998156).