Once upon a time

als ich noch nicht einmal 18 war, da war ich angerührt von einer Obdachlosensiedlung, in der fast 200 Menschen wohnten, und obwohl ich nur über das Viadukt gehen mußte, dort wo heute die Sportanlage in den Tannen ist, war es ein Ausflug in eine andere Welt. Häuser ohne Keller, ebenerdig und mit dünnen Wänden, die sich um 2 öffentliche Wasserhähne und 4 Plumpsklos versammelten.

Viele Kinder, die schmutzig im Schlamm spielten und im umgebenden Wald wohnten merkwürdige Menschen die komische Dinge taten. Heute würde ich sie wohl als Messies, als Zwanghafte oder ausgebrannte Schizophrene bezeichnen, aber für mich waren sie damals Aliens.

Die Hausaufgabenbetreuung, die ich dann aufbaute, war der leichteste Teil der Arbeit, in der Bürgerinitiative war bald der Ruf nach medizinischer Unterstützung laut, da auch die Sozialarbeiter und der Diakon, der mitarbeitete, schnell an ihre Grenzen kamen.

Da kam ein Arzt in die Runde, der so ganz anders war, wie der einzige Arzt den ich kannte. Dr. Helsper war freundlich aber distanziert und übergriffig gleichzeitig. Oder wie würde man interpretieren, wenn der Hausarzt einer 15 jährigen empfiehlt, sich doch den BH besser auszustopfen???

Nein, dieser Dr. Schäffer hörte zu, fragte, war ohne Kittel und ohne Zeichen der Macht unterwegs. Unterhielt sich mit diesen Aliens, ging in ihre stinkenden vermüllten Hütten und setzte sich auf Baumstämme, um zu hören, wie sie nach dem Krieg und dem Arbeitslager krank wurden, nicht mehr den Rückweg nach Ostpolen und Russland schafften.

Den ungewaschenen Kindern schien er echte Sympathie entgegen zu bringen und er aß aus Töpfen, vor denen ich ich noch ekelte.

Als die Pläne standen und die Siedlung aufgelöst werden sollte und ich glaubte, nun würde für Helga und Gabi für Sputnik und Freddi alles besser werden, gab er zu bedenken, dass das Wohnen in einem neuen Hochhaus in der engen Waldsiedlung nicht unbedingt dem Leben im Wald vorzuziehen sei. Dass die schnodderige und geschäftstüchtige Königin der Tannen nun nur zu einer gewöhnlichen Putzfrau degradiert würde. Er wog die Vorteile einer kompletten Wohnung in normaler Wohnlage mit den Nachteilen des sozialen Druckes auf.

Und tatsächlich waren die randständigen Aliens nicht in der Lage, diesen Umzug zu bewältigen. Die alte Schrottlerin kam in eine Psychiatrie, in der sie sich bald vom Leben verabschiedete. Der Pole, der sich mit imaginären Geistern in unsichtbaren Baumhäusern traf, erhängte sich und die Pissnelke, wie sie eine notorische Diebin nannten, die sich immer einnässte, landete endgültig im Gefängnis.

Der Arzt verschwand dann wieder aus meinem Blickfeld, aber ich hatte zum ersten Mal gesehen, dass ein weites Herz und ein klarer Verstand mit einer gütigen Seele einhergehen können.

Sabine Laber