Als ich ihn 1958 zum ersten Mal sah, erinnerte er mich an einen alten Igel. Die struppigen, schneeweißen Augenbrauen, der weiße akkurate Meckischnitt, die scharfe große Nase, die nach vorn gezogenen Lippen und vor allem diese ungeheuer blauen Augen, die mich mit dem aufmerksamsten Blick anschauten, an dem ich mich in meinem ganzen Leben erinnern kann.

Ich stand als Dreikäsehoch in der Türfüllung und war froh, dass meine Mutter mir bunte Streifen an den hellen Pullover gestrickt hatte, denn sie bewiesen, dass ich zwar klein, aber doch gewachsen war. „Sag mal laut und deutlich, wie du heißt und wo du herkommst“, knarrte es in meinen Ohren erschreckend wie ein paar sehr neue Lederstiefel. Als ich diesem Befehl nachgekommen war, schnarrte er zu den sitzenden Kindern: „Wer will sie haben“?

Der Klassenraum war rappelvoll. Es saßen dichtgedrängt vierzig Kinder auf den alten Schulbänken, vor schrägen Klapptischen mit leeren Tintenfässern. 40 feuchte Jacken hingen an der Wand, die schmalen Gängen waren verstopft von Schultaschen und Turnbeutel. Ein Junge mit narbigem Gesicht meldete sich und rückte auf der Bank, so dass ein Platz frei wurde. Sein linker Mundwinkel besuchte freundlich sein einziges Ohr. „Setz Dich ruhig dahin, da bist du gut aufgehoben“, befahl der Lehrer. Er hatte Recht. Ich war in dieser Klasse gut aufgehoben. Das lag nicht nur an meinem neuen Schulkameraden Erwin sondern vor allem an ihm. Wen ich heute Lehrerwitze höre wie z.B. „Lehrer ist keine  Beruf, sondern eine Diagnose!“, dann denke ich an ihn. Ja, es war eine Diagnose: er war mit Haut und Haaren, mit Herz und Hirn Lehrer.

Jeden von uns hat er geprägt mit seiner tiefen Menschenachtung und seinem fröhlichen Lerneifer. In der vorderen Hälfte des engen Klassenraumes stand ein großer Sandkasten. Um den versammelte er uns und 40 Finger schrieben in den Sand das neue Wort „Wurst“, danach bekamen die Erfolgreichen einen Schnipsel der begehrten Fleischwurst. Viel später lernte ich, dass Montessori ihre Schüler auf Sandpapier schreiben ließ, um ihre Fingerfertigkeit zu üben. Wir Kinder der Klasse 2 a legten Streichhölzer in dem Sand zueinander um sie zu addieren, vergruben sie, um sie zu subtrahieren, zerbrachen sie, um zu dividieren. Wir liefen andächtig im Kreis herum, jeder der vierzig Finger zählte die Hölzchen. So begriffen wir, wie sich 100, 150 und 200 Hölzchen anfühlten. Wir übten die Auf- und Abschwünge der lateinischen Schrift und auch noch die eckigen Sütterlin-Zeichen in dem großen Sandkasten.

Ich habe mich im eigenen Lehrerstudium oft gefragt, ob er sich die Methoden in Fortbildungen angeeignet hat oder ob sie seine Ideen waren. Lernen ist Begreifen, Begreifen braucht Hände und Füße. Eine Geschichte vom Reisen nach Amerika lasen wir im Laufen, eine Geschichte vom Ausruhen hörten wir lümmelnd auf der Bank.

Später, als wir schon Lesen und Schreiben konnten, verwandelte sich der Sandkasten in eine dreidimensionale Landkarte. Mit Hilfe von Unmengen bunter Kreide und einem rostigen Muskatreibchen wurde die Kinzig und der Main blaue Rillen, der Spessart eine liebevoll geformte Berglandschaft in grün und braun. Den Gipfel des Buchbergs schmückte ein Schach-Bauer, auf der Ronneburg stand eine bemalte Nährolle. Die Straßen waren bunte Bänder.

Ach, er liebte bunte Kreide und hütete sie in jenen armen Zeiten wie seinen Augapfel.  Mittags, bevor wir nach Hause gingen, sucht er den Schüler aus, der heute in Rechnen kein Glück hatte und übergab ihm feierlich den blechernen Kreidekasten. Das galt als große Ehre, denn derjenige durfte morgens eine halbe Stunde früher zur Schule kommen und mit dem Lehrer das bunte Tafelbild malen. Wenn wir anderen kann ankamen, strahlten von der Wandtafel immer eine überdimensional hell leuchtende Sonne auf eine Landschaft mit Bergen, Bächlein, kleinen Häusern, Eichhörnchen und Füchsen. Der Schüler durfte das Bild signieren und ich war immer neidisch, denn nie bekam ich die bunte Kreide.

Ich durfte auch nicht die Blumen gießen, die üppig auf den sowieso schon überfüllten Fensterbänken standen. Das war die Aufgabe von Schülern, die wegen ihres dicken grünen Daumens nicht gut schreiben konnten. Die Schüler mit schlechten Heimatkundenoten versorgten die beiden Stallhasen im Schulgarten. All diese Kinder waren unendlich wichtig.

Er war so voller Stolz auf seine Klasse und führte uns vor wie einen Stall voller Rassepferde. Alle zwei Wochen konnten wir unser Lob mit vollem Organ gebrüllt vernehmen. Dann stand er vor der Tür und brüllte den schweißnassen, wütend schnaubenden Rektor Runte an: “Ich lasse mir diese Klasse nicht von Ihren altbackenen Einflüssen verderben. Diese Kinder sind für eine bessere Zukunft geboren! Diese Kinder sind Edelsteine und ich werde sie schleifen ohne ihre blöden Vorschriften! Diese Kinder sind die neue Welt! Das werden wir noch sehen. Diese Kinder sind frei und das werden sie auch bleiben!“ Dann flogen mal wieder die Türen. Der runde Rektor hastete die Treppe hinab, das kleine Fräulein Beusen grinste mit ihrem hochroten Kopf vom Nachbarraum herüber, Fräulein Braun fühlte sich gestört. Und unser Held kehrte mit hochrotem Kopf als Sieger  in den Klassenraum zurück. Sein dröhnender Appell an unsere Zukunft beflügelte uns.

Erich Rübsam war damals ein Mann von ungefähr 65 Jahren, er hatte Jahre als Kommunist im KZ gesessen.  Im den Lehrerarmen Nachkriegsjahren waren wir sein letzter Schuljahrgang und er gab uns all seine Erfahrung und Liebe, deren er fähig war. Wir sollten sein Lebenswerk vollenden und er beugte sich nicht den engen Pädagogik-Vorstellungen seines konservativen Vorgesetzten. Normalerweise ging es in den Streitereien zwischen den beiden um Rübsams eigenwilligen Samstagsunterricht. Denn an diesem Tag krönte er seinen Unterricht mit einem Mainspaziergang, wenn das Wetter auch nur halbwegs mitspielte. Die wilderen Kinder spielten Räuber und Gendarm, Fangen und Fußball, was als Sportunterricht galt, in dem alle eine 2 bekamen. Die stilleren Kinder versammelten sich um ihn und er zeigte uns Stockenten, Erlen, Weiden, Maulbeerbäume und nannte es Heimatkunde. Er beobachte mit uns die beladenen und leichten Schiffe, den Main in allen Jahreszeiten, fragte die Angler nach dem Fang und ließ uns die Fische bestimmen und anschließend malen. Wir suchten unter den Steinen nach Larven, Blutegeln, sammelten Muschel und Vogeleier, fanden Blindschleichen und Kaninchenlöcher.

Von Zeit zu Zeit verwandelte sich unser Klassenraum in eine Werkstatt. Wir bauten alle Häuser der Auheimer Altstadt aus Klopapierrollen, Holz und Pappe, bemalten sie liebevoll und liefen herum und schrieben die Klingelschilder ab, um zu erfahren, wer in den Häusern wohnt. So lernten wir die ersten italienischen Gastarbeiter kennen und buchstabierten ihre Namen. Projekttage nennen das die Pädagogen heute. Jedenfalls mussten wir dann nicht in die Pause und hielten uns auch nicht an den regulären Stundenplan. Solche Geschichten waren wieder mit heftigen Zornesausbrüchen zwischen dem Rektor und unserem Lehrer begleitet, Situationen die wir angstvoll und zugleich unendlich stolz beobachteten, denn immer kam er mit einem Lob für uns und zufrieden mit sich in unsere Klasse zurück.

Wer nicht an allen Übungsstunden teilnehmen musste, durfte in der Stadtbücherei helfen, die Rübsam zu diesem Zeitpunkt wieder aufbaute und betreute. Offiziell sollten wir das Kinderbuchregal einordnen, aber in Wirklichkeit trieben wir uns einfach zwischen den Büchern von Astrid Lindgren, Ottfried Preussler und Karl May herum, wir stöberten in Lexika und Atlanten und legten eine eigene Klassenbibliothek an. Gab es bis dahin gerade für uns Mädchen zuvor keine mutigen Heldinnen, die ihr Leben mutig in die Hand nahmen und mitgestalteten, so waren gerade Pippi Langstrumpf und die kleine Hexe wie eine Offenbarung für unsere freien kleinen Köpfe. Sehr selbstverständlich wurden wir Ausleiher und Nutzer seiner Bücherei. Sie wurde uns zur zweiten Schule.

Aber er hielt auch streng auf Zucht und Ordnung. Es war vielleicht damals schon verboten, aber es war damals ja noch durchaus üblich, Kinder zu verhauen. Erich Rübsam versohlte die Buben über der Klassenbank und uns Mädchen gab er sehr schmerzhafte Tatzen auf die Handflächen. Wir mussten, wie alle anderen Schüler aufrecht sitzen in unsren engen Bänken, Hände gehörten auf den Tisch und geschwärzt werden durfte auch nicht, Er kontrollierte streng die Hausaufgaben und manch einer musste seine Tafel immer und immer wieder mit dem kleinen Schwämmchen abwischen und alles noch mal neu schreiben. Ab dem vierten Schuljahr bekamen wir Hefte. Da wurden viele Seite fein säuberlich herausgetrennt, das Heft nähte die Mutter mit Reihfaden neu zusammen. „Euer Kopf ist wie ein Acker“, sagte er dann, „ich kann zwar hinein säen, aber düngen müsst ihr schon selber.“ Trotzdem liebten wir ihn mit der Aufrichtigkeit unserer Kinderherzen.

Erich Rübsam war als junger Lehrer nach dem 1. Weltkrieg 1919 aus Fulda nach Großauheim gekommen, In diesem Jahr wurde auch mein Vater eingeschult. Ob er jemals etwas von der in den Zwanziger Jahren so berühmten Arbeitsschul-Bewegung gehört hatte? Jener pädagogischen Richtung, die sich speziell mit bildungsfernen Arbeiterkindern beschäftigte? Er unterrichtete vor dem Hitlerregime als Lehrer an der Freireligiösen Schule gewesen, eine damals sehr seltene Einrichtung. Normalerweise waren die Schulen des Deutschen Kaiserreiches konfessionell geprägt, katholisch oder evangelisch. Was hatte ihn – aus dem katholischen Fulda stammend – dazu bewegt, Kommunist zu werden? Ich weiß es nicht und obwohl er fast zwei Generationen in Großauheim unterrichtete, ist darüber wenig bekannt. Er kam immer mal wieder mit der Polizei in Kontakt, als er zum Beispiel am alten Ruderclub mit seiner Frau nackt („also nur mit einem Taschentuch bedeckt!!“) sonnengebadet habe, erzählten die Auheimer hinter vorgehaltener Hand.

Ich erinnere mich noch an eine Begebenheit. Ein Mitschüler hatte mir an drei Tagen das Schulbrot geklaut. Irgendwann hatte ich ihn dabei erwischt und es dem Lehrer gemeldet. Er zog den Unglücklichen schon über die Bank und hob drohend den Rohrstock. Aber bevor der Stock das magere Ziel erreichte, stoppte er die geübte Bewegung. Er schickte uns unvermittelt heim. Viel, viel später wagte ich meinen Mitschüler – er war schon längst Vater - zu fragen, wie es damals weitergegangen war. Der Lehrer war mit ihm nach Hause gegangen, hatte seine Mutter ins Gebet genommen und ihr die Tracht Prügel angedroht, wenn der Junge je wieder ohne Pausenbrot in die Schule kam. Ab dann hatte er das regelmäßig überwacht.

Prägend war für mich, dass er mich sehr früh mit nahm in die Bücherei, die mir zur zweiten Heimat wurde. Diese Bücherei hatte er aus den Wirren des zweiten Weltkriegs gerettet und wieder aufgebaut. In jeder freien Minute sorgte er sich ebenso engagiert wie liebevoll um die Bücher und führte ihnen Kinder zu. Die Bücherei roch nach seinem Zigarrenstumpen und hallte wieder von Kinderfüsschen und seinem lauten knarrenden Organ.

Als unsere Grundschulzeit dem Ende zuging und wir die Entscheidungen erhielten, wie es mit uns weitergehen sollte, bestellte er auch meine Eltern ein. Er rang meinen Eltern ab, dass ich nach Hanau auf die Schule gehen durfte. „Diese Kinder sind das Beste, dass Auheim hervorgebracht hat“, sagte er, und das hat mich tief beeindruckt. Erich Rübsam starb schon zwei Jahre danach in seinem Garten einen kurzen, schnellen Tod.

Es ist wahrscheinlich politisch nicht durchsetzbar, aber ich denke, man sollte eine Straße, die Bücherei oder sogar eine Schule nach ihm benennen.